Schutzschilde, unzuverlässige Elemente, Kanonenfutter: Das waren Awdejewkas Bewohner für Kiews Armee
Von David Narmanija
Awdejewkas Befreiung sehnten die Menschen in Donezk sehr herbei. Denn gerade von dieser Stadt und ihrer Umgebung aus wurde die Hauptstadt der Volksrepublik oft mit Artillerie beschossen. Noch viel sehnlicher warteten jedoch die Bewohner Awdejewkas selbst auf die Befreiung ihrer Stadt, die vom dortigen ukrainischen Militäraufgebot wortwörtlich als Geiseln gehalten wurden. Darüber, was sie erleben mussten, berichtet RIA Nowosti in einer Reportage.
"Bitte keine Fotos"
Die Straßen, die wir befahren, sind von den Spuren der zehn Jahre Krieg im Donbass übersät. Wir steuern eine provisorische Flüchtlingsbleibe an; dort gehen wir sofort in die Raucherecke: Da kommen die Gespräche meist flüssiger zustande. Das erste, kaum begonnene Gespräch wird von zwei Explosionen unterbrochen, die mächtig in der Gegend widerhallen – die Luftabwehr hat zwei ukrainische Raketen abgeschossen. Wobei die Knallerei von niemandem hier groß beachtet wird. Jelena, eine Rentnerin, kommentiert:
"Bei uns haben schon längst alle gelernt, woher was angeflogen kommt – und wohin."
Weitaus besorgter als von der Kanonade sind einige Einwohner der Einrichtung wegen der Kamera:
"Bitte nicht aufnehmen. Wir haben Verwandte auf der anderen Seite. Die werden zu Volksverrätern gemacht, falls dort jemand von uns erfährt."
An die drei Dutzend Personen halten sich hier auf. Die Mehrheit wird entweder in andere Städte der Volksrepublik Donezk fahren oder in andere Gebiete Russlands zu ihren Verwandten und sich zumindest bis auf Weiteres dort niederlassen. Der Rest wird zunächst in Wohnheimen einziehen.
Von 35.000 Menschen, die Awdejewka einst bewohnt hatten, verblieben zum Augenblick ihrer Befreiung nur etwa 1.000. Die genaue Zahl wird erst ermittelt werden müssen: Zu sehr haben sich diese Menschen über die letzten vier Monate an eine auf Kellergröße zusammengeschrumpfte Welt gewöhnt.
Awdejewka wird von Eisenbahngleisen in zwei Längsteile geteilt: Das alte Awdejewka mit seinen vielen Niedrigbauvierteln und Datschengebieten ist die nordöstliche Hälfte, während die südwestliche Längshälfte im Wesentlichen aus dem Stadtbezirk Chimik mit dessen Hochbauten besteht. Auch das Kokschemiekombinat Awdejewka, bis zum Jahr 2014 das größte Europas, gehört dieser Hälfte an; es liegt im äußersten Nordwesten der Stadt.
Jelena konnte beobachten, wie die Stadt seitdem in einen befestigten Raum verwandelt wurde:
"Jede Nacht brachten Güterzüge Baumaterial für Befestigungsanlagen hierher. Das ukrainische Militär hielt sehr an dieser Stadt fest."
Auch habe es angedroht, alles dem Erdboden gleichzumachen, falls sie die Stadt verlassen müssten. Vieles blieb zwar erhalten, doch das Kokschemiekombinat hat gelitten. Nikolai, Jelenas Sohn, erinnert sich:
"Mein letzter Arbeitstag war der 12. Mai 2022. Dann wurde die Fabrik wie folgt konserviert: Was sie ausführen konnten, brachten sie weg – und was nicht am Stück mitgenommen werden konnte, zerschnitten sie zu Schrott für die Altmetallsammlung. Und uns schmissen sie einfach raus, unter fingierter Kündigung auf Arbeitnehmerwunsch – um uns keine Abfindungen zahlen zu müssen."
Hexenjagd auf "unzuverlässige Elemente"
Jelena schildert den Moment der ersten Begegnung mit dem russischen Militär:
"Der Nachbar hat gegen das Wasserleitungsrohr geklopft, sodass wir im Keller das gehört haben – so erhielten wir ohne Telefone die Kommunikation aufrecht. Wir schauen also raus – und er: 'Die Russen sind gekommen, sie prüfen gerade die Ausweise.' Erst haben wir es ihm nicht geglaubt – wie viele Provokationen hatte es schon gegeben, als Soldaten umherirrten und sich als Russen ausgaben, also nach unzuverlässigen Elementen suchten. Doch da haben wir sofort verstanden: Das sind unsere – kein ukrainischer Akzent und sehr höflich im Umgang mit uns."
Die letzten Wochen waren die schwersten. Ukrainische Soldaten wurden von Russlands Artillerie und Luftwaffe angegriffen und versuchten, sich davor in Sicherheit zu bringen – indem sie sich zwischen mehrstöckigen Wohnhäusern versteckten. Jelena hierzu:
"Bei Nachteinbruch stiegen wir immer in den Keller. Dann kamen wir am nächsten Morgen raus – das fünfstöckige Nachbarhaus war platt. Am Morgen darauf – noch eines weg. Als hätte dort vorher nichts gestanden. Die russischen Kämpfer entschuldigten sich dann, nachdem sie uns befreit haben. Na, wir verstehen ja: Anders wäre es nicht gegangen."
Ukrainische Soldaten – für Zivilisten gefährlicher als Bomben
Möglichst zu Hause oder im Keller zu sitzen – dies hatten sich Awdejewkas Bewohner noch vor Beginn der russischen Sturmaktionen angewöhnt. Höchstens zum Wasserkochen über einer Feuerstelle im Hof gingen sie an die frische Luft – aus Angst vor den ukrainischen Soldaten. Der 44 Jahre alte Dmitri kann sich noch an die Gefahr erinnern – nur zu genau:
"Ihnen unter die Augen zu kommen, ist kein Stück besser als Artilleriebeschuss. Kommen sie einem auf der Straße entgegen, wechselte man besser die Straßenseite oder versteckte sich gleich irgendwo. Das Mindeste, was einem von ihnen blühte, war die Auslieferung ans Wehramt."
Humanitäre Hilfslieferungen zu holen war deshalb nie die Aufgabe der Männer, sondern nur die der Frauen. Doch das half nicht viel: An den Verteilstellen wurde als Erstes immer gefragt, wo man sich denn so vor Beschuss in Sicherheit bringe – und dort durfte man dann sehr schnell Besuch erwarten. Dmitri betont:
"Sie nahmen alle mit – ob Krüppel, Schielauge oder Einäugigen."
Die Gefahr, im Rahmen von Wladimir Selenskijs Mobilmachung zum Kriegsdienst zwangsrekrutiert zu werden, war der Grund, warum der Stadtbewohner seine Mutter sich selbst überlassen musste, als diese aus Awdejewka nach Krasnoarmejsk (auch: Pokrowsk, eine Stadt im ukrainisch besetzten Teil der russischen Volksrepublik Donezk) umzog: Laufen dort auch keine Kampfhandlungen, so ist das Risiko, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, dort viel höher, als es in Awdejewka war. Doch nach Awdejewkas Befreiung rollt die Frontlinie langsam auch an Krasnoarmejsk heran.
Besagte humanitäre Hilfen des Kiewer Regimes waren laut der Flüchtlinge ziemlich spärlich. Dmitri listet auf:
"Zwei Päckchen Nudeln, drei Kilogramm Mehl, eine Flasche Sonnenblumenöl und vier Konservendosen – all das einmal pro Monat. Wer kommt denn damit aus? Hier dagegen, im provisorischen Aufnahmepunkt, haben wir sofort Essen und Kleidung sowie einen warmen Platz zum Schlafen und Aufhalten bekommen."
Nazi-Terrormilizen entführten Menschen – nicht alle kamen wieder
Am unangenehmsten sind den Bewohnern Awdejewkas die Erinnerungen an Kämpfer der ukrainischen Nazi-Terrormilizen wie Asow. Diese benahmen sich schlicht unverschämt und arrogant – obwohl sie, die meiste Zeit im Hinterland jeglichen Kampfhandlungen fernbleibend, keinen Anlass dazu hatten. Jelena schildert:
"Zivilisten das Leben zur Hölle zu machen – nur damit haben sie sich beschäftigt. Sie kommen irgendwo rein, schreien sofort ihr 'Slawa Ukraini!' heraus – und wehe, du beantwortest die Parole nicht: Dann schleppen sie dich sofort in irgendeinen Keller. Von dort kehrten auch nicht alle zurück. Das wurde im Jahr 2022 nur noch schlimmer, aber angefangen hatte das noch davor."
Auch beschoss das ukrainische Militär eigenhändig die Stadt, die es eigentlich hätte verteidigen sollen – das bezeugen die Zivilisten. Ziel waren die Niedrigbau-Wohngebiete und Datschensiedlungen. Die Stadtbewohner versichern: Dort fuhr nicht einmal die Feuerwehr zu Einsätzen – auf Befehl von oben. Jelena wörtlich:
"Ich weiß doch, von wo die Geschosse angeflogen kamen. Schade nur, dass diejenigen, die von hier in die Ukraine gezogen sind, das schnell vergessen. Nehmen wir meine ehemalige Kollegin: Da gab es einen Einschlag in den Windfang, der zur ukrainischen Seite schaut. Doch sie? Sie beschwert sich bei allen nur über die Russen."
Nikolai ordnet dieses Verhalten ein: Wer keine Erklärung unterschreibt, dass sein Wohnraum vom russischen Militär beschossen worden sei, bekomme vom ukrainischen Staat garantiert keine Ausgleichshilfszahlung.
Nikolai selbst plant zunächst, mit seiner Mutter in der Volksrepublik Donezk zu bleiben und Fuß zu fassen. Er ist überzeugt: Das Leben gerät noch ins Lot – denn das Schlimmste ist ja vorbei.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst veröffentlicht am 6. März 2024 bei RIA Nowosti.
Dawid Narmanija ist ein russischer Kolumnist und Blogger.
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